Von Christian Weber

Nächte vor dem Bildschirm, körperliche Verwahrlosung, schulisches und berufliches Versagen: Die Hinweise häufen sich, dass Online-Spiele und Internet-Pornografie ähnlich abhängig machen können wie Glücksspiel und Alkohol.

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Spiel mit dem Drachen: Dieser Screenshot aus dem Online-Rollenspiel World of Warcraft zeigt, womit sich Computerspieler stundenlang beschäftigen. (© dapd)

Eigentlich wollte der New Yorker Psychiater Ivan Goldstein nur einen Witz machen, als er 1995 in einem Online-Forum den Vorschlag postete, eine neuartige psychische Störung namens "Internetsucht" in die Diagnosekataloge aufzunehmen. Er wollte sich über die damals grassierende Netzbegeisterung lustig machen und erwartete einen heiteren Mail-Austausch mit Kollegen. Stattdessen erhielt er: Zustimmung. Ärzte berichteten von Menschen im Wartezimmer mit exzessiver Online-Nutzung; Patienten meldeten sich und klagten über die von Goldstein genannten typischen Suchtsymptome: zwanghafter Konsum, ständige Dosissteigerung, Entzugserscheinungen.

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Es war der seltene Fall in der Medizingeschichte, in dem eine Scherzdiagnose eine ernsthafte wissenschaftliche Diskussion anstieß, die sofort heftig polarisierte. Manche Forscher hielten die Idee, dass Menschen von einem Gerät abhängig werden könnten, schlicht für Unfug; andere nutzten das neue Thema, um Öl ins Feuer zu kippen: Knapp 80 Prozent aller Internetnutzer seien abhängig, folgerten geübte Hysteriker aus einer 1998 publizierten, eigentlich an anderen Fragen interessierten Studie der Psychologin Kimberly Young von der University of Pittsburgh.

Dabei hatte Young ihre Probanden mittels Zeitungsanzeigen, Flyern und Postings in einschlägigen Selbsthilfe-Foren gesucht. Das ist so, wie wenn man auf dem Oktoberfest die durchschnittliche Abstinenzlerquote in Deutschland ermitteln wollte. Dieses Beispiel zeigt in extremer Weise, wie selektive Stichproben Ergebnisse verzerren können.

Erschreckende Nachrichten aus Taiwan und Südkorea

Vielleicht wäre die Diskussion um das Suchtpotenzial der digitalen Medien sogar ein wenig eingeschlafen, hätte es seit dem Jahr 2000 nicht diese erschreckenden Nachrichten aus Taiwan und Südkorea gegeben, Ländern, die bereits deutlich weiter auf dem Weg der allgemeinen Verkabelung sind. Da gab es die Mutter mit der Online-Spielsucht, die ihren zweijährigen Sohn erdrosselte, der sie mit der Frage nach einer Mahlzeit belästigt hatte. Ein 13-Jähriger prügelte seine Mutter zu Tode, nachdem diese ihm vorgeworfen hatte, zu viel Zeit mit Computerspielen zu verbringen. Ein Ehepaar war so tief in ein Online-Spiel vertieft, dass es nicht mitbekam, wie die kleine Tochter gerade verhungerte.

Und dann erschien im Jahr 2005 in den Zeitungen die Geschichte von dem 28-jährigen Lee Seung Seop, einem hageren jungen Mann mit Brille, der tagsüber Boiler reparierte. Nach Dienstschluss um sechs Uhr abends setzte er sich gewöhnlich in ein Internetcafé und suchte eine Welt auf, wo er in Spielen wie Starcraft oder World of Warcraft Trolle und verführerische Nachtelfen traf, mit Feuer speienden Drachen kämpfte und auf den Rücken von Riesenadlern über wolkenverhangene Gebirge flog. Eines Abends - da war er bereits seinen Job los - verlor sich Lee Seung Seop ganz in diesem Paralleluniversum, er vergaß zu essen und zu trinken. Als er 50 Stunden gespielt hatte, erlitt er einen Herzinfarkt und fiel tot vom Stuhl.

Karrieren wie diese, mögen sie auch selten so drastisch enden, gibt es mittlerweile in allen westlichen Industriestaaten, erste Spezialstationen und Ambulanzen sind eingerichtet. Heute bezweifelt so gut wie kein Psychiater mehr, dass es einen pathologischen Internetgebrauch gibt. Die umstrittenen Fragen sind eher, wann die Grenze zum Krankhaften überschritten ist, wie diese Abhängigkeit entsteht, ob man von einer wirklich eigenständigen Sucht sprechen kann und wie viele Menschen betroffen sind. Diese Fragen sind der Grund, wieso sich die Psychiater bislang noch nicht dazu entscheiden konnten, die Internetabhängigkeit in den 2013 erscheinenden, weltweit einflussreichen Diagnosekatalog DSM-5 aufzunehmen. Dort wird die Störung allerdings bereits im Anhang stehen, auf dass sie weiter untersucht wird.

Einig sind sich die meisten Suchtforscher zumindest, dass die reine Zahl der Stunden, die man vor einem Bildschirm verbringt, für die Diagnose einer Abhängigkeit nicht ausreicht. "Entscheidend ist immer die Frage, ob die Internetnutzung dem Betroffenen auch in seinem sozialen Leben und im Beruf schadet, ob er seinen Arbeitsplatz riskiert, Freundschaften vernachlässigt, die Schule schwänzt, Familienmitglieder belügt oder sich in die virtuelle Parallelwelt einschließt, um Problemen im realen Leben und schlechten Gefühlen zu entfliehen", sagt der Psychiater Bert te Wildt vom Universitätsklinikum Bochum und Vorsitzender des Fachverbandes Medienabhängigkeit. "Ansonsten gleicht die Internetabhängigkeit durchaus der Glücksspiel- und der Alkoholabhängigkeit."

Betroffene sind in Gedanken ständig in der Online-Welt und müssen zunehmend mehr Stunden in ihr verbringen, um Befriedigung zu erlangen. Sie scheitern regelmäßig dabei, wenn sie versuchen, ihren Konsum zu reduzieren. Wenn jemand von außen versucht, ihre Internetaufenthalte zu begrenzen, reagieren sie gereizt. Vom Internet ausgesperrt, werden sie launisch, ruhelos und depressiv. Neueste Studien deuten darauf hin, dass Medienabhängige auch unter körperlichen Folgeschäden leiden, sagt te Wildt: "Durch Mangelernährung, zu wenig Bewegung und Vitamin-D-Mangel durch fehlendes Sonnenlicht sind die Medienabhängigen meist in einem vergleichsweise schlechten Allgemeinzustand." Sie schlafen zu wenig und haben einen verschobenen Schlaf-Wach-Rhythmus. Die Folge sind Konzentrationsprobleme und Leistungsabfall in Schule und Beruf.