sábado, 24 de agosto de 2013

Leben mit Facebook Der digitale Dorian Gray - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Bei Facebook angemeldet habe ich mich im Herbst, zu Beginn eines Auslandsjahres in Istanbul. Ich war soeben im Studentenwohnheim angekommen, draußen regnete es seit Tagen, die Tischtennisplatte war besetzt, und ein Bekannter aus Deutschland sagte, hier könne man alle türkischen Bekanntschaften bequem versammeln. Dann kam der Frühling, und Spaziergänge durch die Stadt glichen einem Besuch bei Disneyland. Ich vergaß Facebook und, abgesehen vom Schreiben sporadischer E-Mails, dass es überhaupt so etwas wie Internet gab.

Meine erste Nachricht, ein Dreivierteljahr nach der Registrierung, bekam einen Like. In den nächsten Monaten loggte ich mich daher regelmäßiger bei Facebook ein. Im Vergleich zu Studi-VZ, wo ich meinen Account unter dem Ansturm immer jüngerer Mitglieder irgendwann gelöscht hatte, erschien mir Facebook als weniger hysterisch, aber genauso persönlich. Eine Plattform, in der gleichaltrige Freunde von ihrem Leben berichteten, eingetaucht in beruhigendes Tiefblau. Ich konnte Menschen, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte, bei Safari-Touren beobachten und Kommilitonen beim Feiern in der Disco. Ich konnte nachlesen, wer seine Hausarbeiten wie bestanden hatte, manchmal sogar, was der Professor dazu gesagt hatte. Was auch immer ich verpasst hatte, Facebook machte mich nachträglich zum Teilnehmer.

Vom persönlichen zum Bewerbungs-Netzwerk

Je größer meine Freundesliste wurde und je bunter damit der Nachrichtenstrom in meinem Profil, desto leichter fiel es mir, mein eigenes Leben auszustellen. Ich sah mich als Teil einer wohlüberlegten Nachhut: Solange die Profilbilder der Mehrzahl meiner Freunde abstrakte Landschaftsfotografien waren, brauchte ich selbst keins. Als sie damit begonnen hatten, echte Porträtbilder hochzuladen, postete ich ein Landschaftsbild: Es zeigte einen Sonnenschirm am Mittelmeer. Irgendwann torkelte ein entfernter Bekannter auf seinem Profilbild rauchvernebelt durch die Nacht, die Augen halb geschlossen, in der Hand eine Flasche Veuve Clicquot. Einige Tage später postete ich mein erstes Porträtbild: Sepia-Farben, Hemd, seriöser Blick.

Ich weiß nicht, wer von meinen Facebook-Freunden zuerst die Idee hatte, die Mitteilungszeile „Was machst du gerade?" umzuinterpretieren in „Für was machst du gerade Werbung?" Irgendwann aber taten es alle regelmäßig. Statt Empfindungen teilten sie ihre Erfolge, wo sie welchen Song und bei welcher Zeitung sie welchen Artikel veröffentlicht hatten. Werbung und persönliche Botschaften wurden fast gleichzeitig gepostet, und die versiertesten Facebook-Nutzer, so schien mir, mischten beide Ebenen: Der Tonfall ihrer Nachrichten blieb persönlich, ihr Inhalt aber richtete sich an die formlose digitale Masse.

Klicken im Rausch

Eines Morgens, der stündliche Blick auf Facebook war längst zu einem unüberprüften Ritual geworden, las ich in etwa die folgenden Neuigkeiten: Eine Bekannte hatte ihren ersten Roman veröffentlicht, ein Freund einen Studienplatz an der Columbia University in New York bekommen, und ein weiterer war gerade Vater eines gesunden Kindes geworden. Ich loggte mich aus, las in hypernervöser Stimmung zwei Seiten eines wissenschaftlichen Aufsatzes, legte ihn beiseite und loggte mich wieder ein. Ich überlegte, was sich auf die Frage „Was machst du gerade?" im digitalen Raum antworten ließ. Lesen? Studieren an der Universität Freiburg? Da ich weder einen Coup an der Börse noch entscheidende Schritte zur Rettung der Welt eingeleitet hatte, also nichts Wesentliches beizutragen hatte, loggte ich mich wieder aus.

Aber spätestens nach zehn Minuten starrte ich wieder auf die Facebook-Oberfläche. Je unglücklicher mich das Netzwerk machte, desto länger wollte ich mich darin aufhalten - wenn auch nur, um mich zu versichern, dass mein reales Ich besser sei als virtuell angenommen. Ich fragte mich, warum ich selbst besten Freunden ihre Erfolge nicht mehr gönnen konnte, und klickte innerhalb weniger Minuten ungefähr dreißigmal den „Gefällt mir"-Button. Anschließend fühlte ich mich wie nach einem Alkoholrausch.

Datenschutz bedeutet realer Schutz

Lange reagierte ich auf Fragen des Datenschutzes so akribisch wie nötig, um nicht als unsensibel zu gelten. Ich wählte die strengsten Privatsphäreeinstellungen, und mir „gefiel", wenn sich bei Facebook jemand über die Methoden von Facebook ärgerte. Aber wichtiger als die Frage, welche Spuren mein digitales Ich hinterließ, war stets die Frage, wie es aussah. Nur einmal bekam ich eine konkrete Ahnung, was ein Account bei Facebook bedeuten musste: Ich hatte eine kritische, aber nicht eben gelungene Reportage über eine politische Organisation geschrieben, als plötzlich eines ihrer Mitglieder in meinem Tutorat an der Universität auftauchte. Er habe beschlossen, erklärte der Mann, sein Jurastudium kurz vor dem zweiten Staatsexamen abzubrechen, und suche jetzt Rat.

Seine nächste Frage lautete, ob man sich demnächst zu einem informellen Austausch bei mir treffen könne. War das Zufall? Wahrscheinlich. Aber was, wenn nicht? Hatte er den Text gelesen, meinen Namen gegoogelt und herausgefunden, wo ich arbeitete? Wahrscheinlich nicht. Aber was, wenn doch? Dann hätte er auch gewusst, wie ich aussah. Ich löschte mein Porträtfoto bei Facebook, lud den Sonnenschirm am Mittelmeer hoch, googelte meinen Namen und klickte auf „Bilder". Dort sah man mich, Sepia-Farben, Hemd, seriöser Blick. Erst Wochen später verschwand das Bild aus der Suchmaske.

*

Am Anfang dieses Jahres beschloss ich, Facebook als das zu nutzen, was es für mich ohnehin geworden war: eine Werbeplattform. Ich löschte die letzten persönlichen Bilder, entfernte Markierungen und alle biographischen Hinweise. Mein neues Profilbild zeigt Deckenlampen einer St. Petersburger Metro-Station, im Feld „Ausbildung" habe ich „The Jedi Academy" eingetragen. Noch immer bin ich Teil der Nachhut: Viele meiner Freunde haben bereits Allzumenschliches wegretuschiert und stattdessen ihre Ausbildungs- und Karrierestationen genau dokumentiert.

Leerstellen sagen häufig mehr aus als Inhalte. Wenn eine Person ihr Alter nicht angibt, heißt das in achtzig Prozent der Fälle, dass sie zu alt ist. Wenn sie ihr Alter angibt, dann heißt das nicht nur, dass sie sechsundzwanzig oder einunddreißig Jahre alt ist, sondern auch, dass ihr Alter für ihr derzeitiges berufliches Stadium angemessen ist. Wenn eine Nachricht keine Likes bekommt, dann kann das heißen, sie ist uninteressant. Es kann aber auch heißen, sie ist äußerst interessant. Denn niemandem „gefällt" einfach, was ihm gefällt, sondern nur, was ihm ohne entsprechendes Konkurrenzverhältnis und ohne sich selbst beruflich zu schaden gefallen kann.

Permanente Reaktion und Reflexion

Und vice versa: Jemandem „gefällt" genau das, was ihm beruflich eigentlich nicht gefällt, um einen Konkurrenten zu hofieren oder das zugrundeliegende Konkurrenzverhältnis zu verschleiern. Nutzer versuchen, die Erwartungen ihres digitalen Gegenübers zu erahnen und spieltheoretisch zu unterlaufen. Im Gewand digitaler Freundschaftsbekundungen versteckt sich die kühl berechnende Ratio.

Kürzlich teilte eine Schriftstellerin einen Artikel, den ich über sie geschrieben hatte, ich klickte voller Stolz auf „Gefällt mir", fragte mich aber schon wenige Sekunden später, ob es nicht ein Fehler gewesen war. Was, wenn einem Foristen auffiele, dass ich zeitweise an derselben Kunsthochschule wie die Autorin studiert hatte? Was, wenn er behauptete, dass es sich dabei nicht um einen Zufall handele? Innerhalb weniger Stunden würde der Kommentar tausendfach gelesen, jemand würde ihn rebloggen, ein anderer ihn in die Kurzform eines griffigen Tweets gießen, Hunderte ihn retweeten, und bei der "Bild"-Zeitung" käme am Ende die Nachricht an: „Schriftstellerin besticht Journalisten." Ich klickte auf „Gefällt mir nicht mehr".

*

Mein digitales Ich ist längst zu einem besseren Ich geworden. Es hat sich von seinem Urheber emanzipiert. Nicht wie ein Monster, das aus dem Labor ausbricht, die eigene Unvollkommenheit erkennt und seinen Schöpfer Frankenstein zu bestrafen sucht. Sondern wie ein digitaler Dorian Gray, der sein analoges Alter Ego in die bunte, champagnergetränkte Welt des Erfolges entführt. Dafür brauche ich nichts weiter zu tun, als Informationen herauszulassen.

Wenn unsere Lebensläufe brüchig erscheinen, wenn wir noch keine Geschichte erfunden haben, die wir für unser Leben halten, dann steigt die Bereitschaft, dem Glanz unseres digitalen Ichs nachzugeben. So entstehen Lügen, die sich am Rande der Wahrheit bewegen, sich an die Wahrheit anschmiegen und sie so lange zu umschmeicheln suchen, bis auch sie endlich glaubt, die Lüge wäre ein Teil von ihr. Anders gefragt: Was ist Wahrheit? Die Vorstellung, die eine Vielzahl von Personen über ein digitales Individuum hegt, oder jene, die ein Einzelner von seinem „realen" Ich hat?

Das Ziel: Das reale dem digitalen Ich anzugleichen

Vor mehr als hundert Jahren schrieb Hermann Bahr in Berufung auf Ernst Mach: „Das Ich ist unrettbar. Die Vernunft hat die alten Götter umgestürzt und unsere Götter entthront. Nun droht sie, auch uns zu vernichten. Da werden wir erkennen, dass das Element unseres Lebens nicht die Wahrheit ist, sondern die Illusion." Heute gilt beides: Das Element unseres digitalen Lebens ist nicht die Wahrheit, sondern die Illusion, und deswegen ist auch das Element unseres Lebens nicht die Wahrheit, sondern am Ende die Illusion. Denn es geht nicht mehr darum, ob unser reales Ich besser ist als digital angenommen, sondern ob es seinem digitalen Ebenbild gleichen kann. Die Kontrolle droht uns mit dem verführerischen Lächeln des digitalen Dorian Gray zu entgleiten.

Dorian Gray aber existiert nie ohne Bildnis. Irgendwo, in den klimagekühlten Kellern amerikanischer Geheimdienste, existiert ein Gemälde, auf dem mein längst gelöschtes Porträtbild - Sepia-Farben, Hemd, seriöser Blick - zu sehen ist, jeder rückgängig gemachte Gefällt-mir-Daumen, jede Spur, die ich im Netz hinterlassen habe. Dort existieren ganze Bildergalerien für jeden Einzelnen, und die Frage ist nicht allein, wer sie dort aufhängt, nicht einmal, wen und ob sie überhaupt jemanden interessieren, sondern: wann wir unseren digitalen Fratzen selbst gegenübertreten müssen.

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