Marcel ist down, aber sowas von. Meike, seine On & Off-Freundin, zieht aus der gemeinsamen WG in Berlin-Kreuzberg aus - zu Alex, ihrem neuen Lover in Köln. Er bleibe deswegen heute Abend lieber zu Hause, erklärt Marcel seinen 2,5 Millionen Facebook-Freunden, wünsche aber allen "eine tolle Partynacht".
Kein Mensch weiß, wer Marcel wirklich ist. Er ist eine jener Figuren aus "Berlin - Tag & Nacht" (BTN), jener Daily Soap bei RTL II, die den Alltag einer fiktiven WG aus Fitnesstrainern, Türstehern, Kosmetikerinnen und anderen Vertretern eines Prekariats abbildet, das so ist, wie sich Lieschen Müller in Posemuckel die Berliner vorstellt: arm, aber sexy.
Es sind Party People, denen man in dieser Ballung bisher nur in der der Reality-Soap "Big Brother" begegnet ist: gepierct, ganzkörpertätowiert und nicht unbedingt in Kultur-Foren unterwegs.
Die Nähe zu den Fans
Doch "Big Brother" war gestern. Bleierne Langeweile. Leerlauf. Selbstgespräche. Die Zukunft gehört Selbstdarstellern, die nach einem Drehbuch agieren und ihre Rolle auch außerhalb des Fernsehens bei Facebook weiterspielen. Das ist das Erfolgsrezept von BTN: die Nähe der Darsteller zu ihren Fans.
Sie entschädigt dafür, dass die Storys banal sind und die Dialoge klingen, als habe sich Rosamunde Pilcher zu Recherchezwecken in die Berliner Kanalisation begeben: "Stinkt ditte, eye!"
So ist das eben, wenn man den Alltag "scriptet" und jeden technischen Schnickschnack verzichtet. Eine einzelne Kamera schwenkt zwischen den Darstellern hin- und her, wenn die in ihrem Kreuzberger Loft das tun, was man eben so macht, wenn man in der komfortablen Lage ist, sich häuslich in diesem RTL-II-Paralleluniversum einrichten zu dürfen - lieben, lügen und die eigenen Neurosen pflegen.
Marktanteil verdreifacht
Die Realität bleibt draußen. Wen interessieren Horrormeldungen von Mietexplosionen in Kreuzberg, wenn ihn die Kamera stattdessen auf schnelle Fahrten durch die Stadt mitnimmt, vorbei an den Hot Spots für Flatrate-Sauftouristen, East Side Gallery, Spree City, Warschauer Straße?
So hat es die Soap seit ihrem Start im September 2011 geschafft, ihren Marktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen zu verdreifachen. Er liegt inzwischen bei zwölf Prozent. Für RTL II (Senderschnitt: sechs Prozent), den kleinen, trashigen Bruder von RTL, war dieser so dringend benötigte Überraschungserfolg "ein echter Burner", wie Marcel und seine Freund aus der TV-WG sagen würden.
Geiz ist geil
Entsprechend gut wird er vermarktet. Inzwischen gibt es mehrere Soundtracks zur Soap und eine eigene Smartpone-App. RTL II hat die von der Kölner Firma Filmpool ("X-Diaries - Love, Sun & Fun") produzierte Soap schon nach Frankreich und Ungarn verkauft. Die USA, Polen und Russland sollen dem Credo der Macher auch schon auf den Leim gegangen sein: Geiz ist geil.
Und inzwischen hat die BTN-Facebook-Seite mehr als doppelt so viele Anhänger wie "Gute Zeiten, Schlechte Zeiten" (GZSZ), die älteste und erfolgreichste Daily Soap im deutschen Fernsehen.
Die Mitbewohner der WG posten dort Fotos, Videos oder tagebuch-ähnliche Einträge, als Teaser für die kommenden Folgen oder einfach nur, um den Zuschauer direkt anzusprechen.
Ob die den Fake durchschauen oder nicht, kann RTL II egal sein, solange sie das Spiel mitspielen. Und das tun sie tatsächlich. Thomas Kö zum Beispiel. "Ich kann Dich verstehen", schreibt er in seinem Kommentar zu Marcels Facebook-Eintrag "Das ganze mit Meike nimmt dich sehr mit. Ich kenne das nur zu gut."
Interviews gibt es nicht
Die Grenze zwischen Realität und Fiktion, sie ist fließend, und der Sender tut alles, damit das so bleibt - Interviews mit den Darstellern gibt es keine.
Dabei hätte man zum Beispiel gerne mehr über Ole erfahren, jenen chaotischen Mitbewohner, dem nichts gelingt, nicht einmal Steaks, der aber schon lange von einem Durchbruch als Schlagersänger träumt. 2012 stellte er sich auch jenen vor, die BTN bisher nur vom Hörensagen kannten.
Da landete der 25-Jährige, der im richtigen Leben Falko Ochsenknecht heißt, unter dem Pseudonym "Ole ohne Kohle" einen Top Ten-Hit bei iTunes: "Ich bin kein Model und kein Superstar". Der Gesang war so grottig wie das Arrangement, mehr ein PR-Gag für die Soap als ein ernstzunehmender Emanzipationsversuch. Und doch hatte die Wirklichkeit den Wunsch für einen Moment eingeholt.
2,5 Millionen Facebook-Freunde haben Ole & Co. schon jetzt, und wenn RTL II den Ableger "Köln 50667" lanciert, dann werden viele davon den Fernseher schon eine Stunde früher als bisher einschalten.
Die neuen WG-Mitbewohner
Die dazugehörige Facebook-Seite hat der Sender schon vor sechs Wochen ins Netz gestellt, um die Mitbewohner der neuen WG vorzustellen. Zum Beispiel Diego, den "coolen Womanizer" (RTL II), der plötzlich verunsichert ist, weil er sich zum ersten Mal verliebt. Oder Joleen, 24, nicht das hellste Licht auf der Torte, aber eine echte Sahneschnitte.
327.552 Besucher haben die Seite schon "geliked", ohne eine einzige Episode gesehen zu haben. Die Weichen dafür hat der Sender gestellt, indem er die beiden Soaps miteinander verzahnt hat. Ein raffinierter PR-Coup. Meike, die abtrünnige Freundin des Aushilfstätowierers Marcel, ist das Bindeglied zwischen "Berlin - Tag & Nacht" und "Köln 50667".
Sie zieht an den Rhein zu Alex, Bad Boy, Barbesitzer und Biker. Seine Bar in der Kölner Innenstadt, Postleitzahl: 50667, soll einen Hauch von Hollywood versprühen. So suggeriert es RTL II. Den Titel hat der Sender an "Beverly Hills 90210" angelehnt, die erfolgreiche TV-Serie über reiche Teenager in L.A.
Dabei stammt das Personal zum Teil aus dem echten Big-Brother-Container. Armes Deutschland. Aber jeder Sender bekommt eben die Stars, die er verdient.
RTL II, "Köln 50667", Montag bis Freitag, 18 Uhr
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