miércoles, 27 de febrero de 2013

Twitter im Abwind Es war wohl alles ein bisschen viel für ihn - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Der Vorsitzende der Piraten-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Christopher Lauer, hat in dieser Zeitung einen Abschied verkündet. „Twitter ist für mich gestorben" heißt der Text. Dieser Artikel ist das derzeit Aufschlussreichste, was über die Piraten-Partei und die Politik in einer digitalen Gesellschaft geschrieben wurde - allerdings auf vermutlich andere Art, als der Autor es beabsichtigt haben dürfte.

Um zu verstehen, was der Twitter-Rückzug für Lauer selbst bedeutet, muss man seinen Weg kennen. Es hilft, wenn man sich dabei von den plakativen, manchmal albernen Bildern löst, die er in den Medien von sich gezeichnet hat. Christopher Lauer ist der meistunterschätzte Politiker seiner Partei. Er könnte die Piraten erheblich bereichern, wenn es dort eine klare Vision gäbe und ein Führungsteam, das diese Vision verkörpert. In so einer Konstellation würde Lauer die Position der offensiven Sturmspitze glänzend ausfüllen. Mit dem Wissen um die Unterstützung der gesamten Mannschaft wäre Lauer im medialen, mit harten Bandagen agierenden Politpalaver kaum zu schlagen, die Ein-Mann-Abteilung aggressive Attacke.

Die Köpfe des Schwarms

Aber die Vision fehlt, das Führungsteam ebenso. Ohne die inhaltliche und personelle Rückversicherung läuft Lauer aus der Bahn. Seine Partei setzt seine Stärken nicht ein, weil sie im Moment niemandes Stärken einsetzt. Für jemanden, der viel Bestätigung braucht, um zu funktionieren, entsteht daraus Verbitterung. Die Partei, der er über Jahre Energie und Euphorie geopfert hat, lehnt ihn zum großen Teil ab. Dafür gibt es mehrere Gründe, Neid und Missgunst, aber auch schlicht Antipathie. Die ist ihm auf Twitter gerade von Parteifreunden entgegengeschleudert worden.

Lauer beklagt in seiner Abschiedsschrift, er habe Hunderte von Störenfrieden auf Twitter blockieren müssen. Täglich habe er Beleidigungen lesen müssen, daraus resultiere „sozialer Stress". Es ist eine neue Qualität sozialer Medien, hingeworfene Blitzgedanken und halbgare Halbsätze sichtbar zu machen, die zuvor zwischen Teeküche und Treppenhaus den Moment ihrer Aussprache nicht überdauerten. Twitter ermöglicht so den Blick in die Köpfe des Schwarms. Für eine exponierte Person, die häufiger im Gespräch ist, lässt sich Twitter aber nur nutzen, wenn man dort nach ihrem Namen sucht. Sonst entgingen einem jede Ansprache, jeder Dialogversuch, Twitter verkäme zum ausschließlichen Sendemedium. Das ist, als würde man Guido Westerwelle zwingen, jedes einzelne Kneipengespräch über ihn mit anzuhören: Zermürbung. Wie Westerwelle trägt Christopher Lauer an der Antipathie eine Mitschuld; denn wenn er je auf Beliebtheit gespielt haben sollte, hat er das ausgesprochen geschickt verborgen.

Egozentrik und Aggressivität

Jede Aktion, die er unternahm, um akzeptiert oder gar gemocht zu werden - etwa sein piratenuntypisch allein verfasster Vorschlag für eine Urheberrechtsreform -, geriet zum Bumerang. Dem Schwarm lässt sich auch mit der cleversten Einzelaktion nicht beweisen, dass man ein guter Teamplayer ist. Lauers Dilemma besteht auch darin, dass er unablässig fragt: „Was kann ich für euch tun?" Von dieser Frage nimmt seine Partei nur ein einziges Wort wahr: ich. Der Vorwurf der Egozentrik ist die logische Folge. Und so richtet sich Lauers theoretisch wertvolle politische Aggressivität nach innen statt nach vorn.

Das wird ihm hundertfach zurückgezahlt, der Schwarm ist unerbittlich, der Piratenschwarm erst recht. Am Tag des Twitter-Rücktritts gab es einen weniger beachteten, politischen Rücktritt. Der Parteivorsitzende der Piraten in Baden-Württemberg zog sich wegen Mobbings und Gewaltandrohungen gegen die Familie zurück. Er äußerte selbst den Verdacht, dass Piraten dahinter stünden. Lauers Twitter-Abschied ist als Abkehr von der Piratenbasis zu werten. Die Verantwortung dafür liegt auch bei der Basis, die nicht erkennen möchte, dass sie schon jetzt sehr viel Macht hat.

Inoffizielle ständige Mitgliederversammlung

Politisch lässt sich Lauers Abschied von Twitter als Symbol für drei gesellschaftlich sehr relevante Entwicklungen betrachten. Für die Piraten bedeutet es, dass die bevorzugte soziale Kommunikationsform der Partei nicht für den Austausch zwischen Funktionären und Basis oder auch nur die politische Diskussion taugt. Die auf Twitter notwendige Verdichtung erfordert es, Grautöne wegzulassen. Aber gerade diese Nuancierung kann den Unterschied ausmachen zwischen einer harten Argumentation und einem Angriff ad hominem.

Twitter ist jedoch die Plattform, auf der jeder Journalist zuerst nachschaut, wenn es um Piratenbelange geht. In der Partei wird über eine „ständige Mitgliederversammlung" im Netz diskutiert, zuletzt forderte ironischerweise Lauer selbst im November 2012 deren Einführung. Inoffiziell gibt es diese Versammlung längst - sie heißt Twitter. Über den Umweg klassischer Medien finden die Twitter-Aktivitäten der Piraten ein weitaus größeres Publikum als die paar tausend Follower der prägenden Köpfe der Partei. Das Medium, über das Piraten medial am intensivsten wahrgenommen werden, ist gleichzeitig am unübersichtlichsten und am schwierigsten zu kontrollieren. Damit wird umso schmerzlicher bewusst, dass es die Piraten versäumt haben, außerhalb von Twitter digitale Kanäle von öffentlicher Relevanz aufzubauen, um den ungeheuer großen Informationswunsch der Öffentlichkeit zu bedienen. Die Piraten müssen einen Stausee möglichst kontrolliert abfließen lassen und erkennen, dass ihnen hundertausend Strohhalme dabei nur begrenzt nützen.

Der zweite Aspekt von Lauers Rückzug trifft die Piraten noch stärker ins Mark. Twitter ist ein besonderer Ort für die digitale Öffentlichkeit. Was dort geschieht, kann wie mit einem Vergrößerungsglas über andere Medien millionenfach weiterverbreitet werden. Deshalb geht Lauers Aufwiegen seiner Follower- und Klickzahlen mit Zeitungslesern und Fernsehzuschauern völlig fehl. Politisch gilt das in jeder Dimension: Der bekannteste Tweet der Welt, „Four more years" von Barack Obama, entfaltete seine Wirkung nicht durch die 25 Millionen Follower des Präsidenten, sondern durch die Berichte über diesen Tweet in anderen Medien mit einem mutmaßlichen Milliardenpublikum.

Avantgarde der digitalen Gesellschaft

Ursprünglich aber waren die sozialen Medien in Deutschland das kommunikative Herrschaftsgebiet der Piraten. Besonders auf Twitter entwickelten die Digitalpolitiker eine beeindruckende Präsenz und damit eine Prägekraft für die Stimmungen im Netz. Längst haben die Piraten diese Kraft verloren, auch dafür steht Lauers Abschied. Besonders bitter ist, dass die traditionelle Politik Twitter im Handstreich übernommen hat. Am 5. Februar nannte die stellvertretende Generalsekretärin der CSU die stellvertretende Parteivorsitzende der CDU auf Twitter öffentlich eine „süße Maus". Mehr muss man kaum wissen, um zu erkennen: Selbst die Unionsparteien haben den Ton und das Gespür für die sozialen Medien für sich entdeckt.

Die dritte Bedeutung des Twitterabschiedsbriefs wiegt jedoch am schwersten. Christopher Lauer gehört zweifellos zur Avantgarde einer digitalen Gesellschaft. Nicht nur seine Funktion in der Piraten-Partei, auch sein hartnäckiges Eintreten für die Diskussionsplattform im Netz „Liquid Democracy" und sein früherer Beruf in einer Softwarefirma zeigen das. Wenn so jemand keinen geeigneten Umgang mit dem wichtigsten sozialen Medium seiner Partei findet, steht dahinter Größeres als allein der Unwillen eines Einzelnen.

Eine Frage des Gefühls

Der normale Gebrauch sozialer Medien gehört inzwischen zum Allgemeinwissen einer vernetzten Gesellschaft. Aber für die nicht alltäglichen Situationen gilt das nicht. Empörungswellen, Mobbing, eine situative Exponiertheit - diese neuen Phänomene können selbst kenntnisreiche Netzoptimisten schnell überfordern. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Überforderung Christopher Lauer bloß früher als viele andere trifft, dass sie eher zur Normalität wird als Ausnahme bleibt. In diesem Fall bliebe als vorerst einzige Möglichkeit, die Kunst des Ignorierens ganz neu zu erlernen. Der wichtigste Filter für die Informationsflut ist kein Algorithmus, sondern bleibt der eigene Kopf.

Die konkreten Argumente aber, die Christopher Lauer zur Begründung seines Abschieds vorgebracht hat, müssen jedem seltsam bekannt vorkommen, der die Internetdebatten der vergangenen Jahre verfolgt hat. Die angebliche Irrelevanz Twitters, die scheinbar vertane Zeit, die Irritation darüber, dass dort jeder ohne redaktionelle oder andere Filter publizieren kann - Lauer verwendet bis in die einzelnen Formulierungen hinein exakt die klassischen Standardargumente der Internetskeptiker.

Und diese Erkenntnis birgt Sprengkraft. Denn das bedeutet, dass die emotionale Ablehnung sozialer Medien keine Frage mangelnden Wissens sein muss, sondern eine Frage des Gefühls, mit dem man der digitalen Welt und den Menschen darin gegenübertritt. Wenn ein Vorreiter der politischen, digitalen Öffentlichkeit einen Text über Twitter schreibt, der vom Vorsitzenden eines Vereins zur Brauchtumspflege stammen könnte, ist das ein Zeichen, um sich zu sorgen - nicht um Christopher Lauer, sondern darum, wie die Öffentlichkeit sozialer Medien wirkt, wenn es nicht gerade um Katzenfotos geht.

Sascha Lobo, Jahrgang 1975, ist Blogger, Buchautor, Journalist und Werbetexter.

Quelle: F.A.Z.
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